Gerechtigkeit und Plünderung

von Prof. Niko Paech aus „brennstoff“
„Ihr wollt durch eine Änderung Gerechtigkeit in die Welt bringen,
aber die Welt ändert sich nicht, weil ihr selbst euch nicht ändert.
Und so lange ihr euch nicht selbst ändert,
wird auch die Welt sich nicht ändern.
Die Welt kann anders werden, wenn ihr anders werdet.“
Auguste J. A. Gratry
Das Ende der Wohlstandsparty naht. Bald beginnt das Gerangel um die letzten Logenplätze in einer wegbröckelnden Bequemokratie. Mit der Angst vor dem Weniger lässt sich hervorragend Politik machen. „Jetzt erst recht!“ lautet deshalb die Parole einer verzweifelten Wachstumsstrategie, die zum finalen Kreuzzug gegen die Überbleibsel an noch nicht verwerteter Natur bläst. Aber was rechtfertigt die Verteidigung eines ruinösen, ohne Wachstum nicht zu stabilisierenden Konsum- und Mobilitätsmodells, dessen Untergang bestenfalls verzögert werden kann?
Den ideologischen Überbau wirtschaftlichen Wachstums bildet seit jeher die Arie vom Fortschritt, der für Gerechtigkeit und Frieden sorgt.
In seiner „Philosophie des Geldes“ hat Georg Simmel trefflich dargelegt, wie sich Wachstum und Fortschritt zu einem sozialpolitischen Alleskleber verrühren lassen.
Wenn sich die von vielen begehrten Dinge nicht vermehren ließen, so konstatiert Simmel, verschärfe sich unweigerlich die „Menschheitstragödie der Konkurrenz“. Letztere gelte es kraft Fortschritts zu überwinden:
„In dem Maße, in dem man weitere Substanzen und Kräfte aus dem noch unokkupierten Vorrat der Natur in die menschliche Nutznießung hineinzieht, werden die bereits okkupierten von der Konkurrenz um sie entlastet.“
So werden soziale Konflikte in solche zwischen Mensch und Natur umgelenkt.
Diese Friedensstifterlogik wird auf zusehends höheren materiellen Niveaus ausgetragen. Denn moderner Fortschritt gebiert laufend innovative Steigerungen der materiellen Freiheit, Mobilität und Bequemlichkeit.
Kaum werden diese von einer Minderheit aufgegriffen, um sich symbolisch abzuheben, ertönt auch schon die Klage, wie ungerecht es sei, andere davon auszuschließen. Der resultierende sozialpolitische Druck spiegelt sich in einer relativierten Armutsdefinition wieder, die es ermöglicht, Menschen selbst dann als bedürftig oder „arm“ zu bezeichnen, wenn deren Lebensstandard lediglich weniger rasant als der des Durchschnitts gestiegen ist.
Die somit ständig aufs Neue konstruierten Gerechtigkeitslücken mobilisieren ein Industrie- und Subventionssystem, das nicht nur Einkommensquellen für die Abgehängten erschließen, sondern Smartphones, Autos, Häuser, Textilien, Weltreisen und Erdbeeren im Winter erschwinglich für den Massenkonsum machen soll. Dröhnende Materialschlachten hetzen einem gerechten Ausgleich hinterher, der sich als davoneilendes Ziel entpuppt. Denn zwischenzeitlich brandet die nächste Innovationswelle auf, die abermals Konsumpioniere und somit neue soziale Differenzen auf den Plan ruft. So mündet der Gerechtigkeitswettlauf zwischen Hase und Igel in eine nie endende Aufwärtsspirale.
Diese sozialpolitische Abwertung oder Relativierung zuvor akzeptierter Konsumausstattungen trifft auf eine Ökosphäre, die nur absolute Belastungsgrenzen kennt.
Deshalb setzt die Ausbreitung steigenden Reichtums um der Gerechtigkeit willen umso krassere Ungerechtigkeit gegenüber späteren Generationen voraus. Um diese offenkundige Verwechslung zwischen Substanzverzehr und einer erwirtschafteten Verteilungsmasse zu kaschieren, wird ergänzend zum sozialen ein technologischer Fortschritt beschworen. Dieser soll den im Namen der Gerechtigkeit wachsenden Wohlstand ökologisch rein waschen. Dummerweise ist überall zu besichtigen, wie aus diesem grünen Wachstumstraum ein Trauma der Problemübertünchung und Landschaftszerstörung geworden ist. Dass an dem erneuerbaren Budenzauber dennoch festgehalten wird, verdankt sich einem technozentrischen Religionsersatz, dessen Realitätsferne die katholische Kirche in den Schatten stellt.
Folglich ist eine ketzerische Frage unausweichlich: Was ist wirklich gemeint, wenn von „gerechter“ Teilhabe, Verteilung, Inklusion oder sozialer Emanzipation die Rede ist – das gleichverteilte Recht, ökologisch über die Verhältnisse zu leben, oder dieselbe Pflicht zur Mäßigung?
Ein plünderungsfreier Lebensstil verlangt erstens eine Reduktion und Umverteilung der Erwerbsarbeitszeit, die dann verbleibt, wenn die industrielle Fremdversorgung auf ein ökologisch dauerhaft übertragbares Niveau zurückgebaut wird. Zweitens ist Gerechtigkeit nicht nur eine Frage der Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern der Vermittlung von Fähigkeiten, ergänzend zu einem bescheidenen Erwerbseinkommen auch geldunabhängige Versorgung zu praktizieren. Wer würdeloser Konsumbedürftigkeit mittels autonomer und kooperativer Selbstversorgung entgeht, insbesondere einen sesshaften statt kerosintriefenden Lebensstil ausübt, ist nicht nur souverän, sondern entschärft Verteilungskämpfe, die auf dem Rücken der Ökosphäre ausgetragen werden.
Wenig zu verbrauchen und davon möglichst viel selbst oder mittels lokaler Netzwerke zu produzieren, erhöht die Resilienz. Drittens lässt sich gerechtigkeitsfähiger Wohlstand nur anhand individuell verbrauchter Ressourcen bemessen. Wenn die mit der Einhaltung des 2-Grad Klimaschutz-Zieles korrespondierende CO2-Menge auf sieben Milliarden Erdbewohner gleich verteilt würde, stünde jeder Person ein jährliches Emissionsbudget von 2,7 Tonnen zu. Der europäische Durchschnitt beträgt ein Mehrfaches davon.
Gerechtigkeit setzt also kein Wachstum, sondern Reduktion und ökonomische Souveränität durch Selbstversorgung voraus.
Prof. Niko Paech, geb. 1960, ist einer der bedeutendsten deutschen Wachstumskritiker – und er ist authentisch, denn er lebt seine Vision einer „entschleunigten und entrümpelten Welt“. Der Volkswirtschaftler ist seit 2010 außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt an der Universität Oldenburg. Jüngste Publikation: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. oekom Verlag, 2012
WEBTIPP: www.postwachstumsoekonomie.de

Über Akademie Integra

Als ich wusste, dass ich nicht wusste, was ich nicht wusste, hat mich die geistige Führung endgültig an den Rand der Verwirrung gebracht. Doch ich machte weiter, ...bis ich endlich fand!
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